Ich wollte immer Kinderärztin werden. Nicht Ärztin. Kinderärztin. Von Anfang an. Und es hat sich nie etwas an diesem Wunsch geändert. Wenn überhaupt wurde mir nur bewusst, dass ich mich vor allem zu den winzigsten der Winzigen hingezogen fühlte. Säuglinge. Neugeborene. Frühgeborene. Je mehr Mini desto mehr war ich in meinem Element.
Bei meinem ersten Praktikum als Studentin in der Kinderklinik landete ich auf der Frühchen-Intensivstation.
Der Chef – ein kleiner, älterer Mann – betrat die Station und begann seine Visite. Am ersten Bett machte er die Schwesternschülerin rund wie einen Tischtennisball.
SCH: „Das Kind hat eine Hyperbilirubinämie.“
CA: „Was hat das Kind?“
SCH: „Ikterus durch…“
CA: „WAS?“
SCH: „Ähm … Bili… Galle … Also …“
CA: „WIE SIEHT DAS KIND AUS?“
SCH: (sehr leise) „gelb“
CA: „EBEN!!! Das Kind ist gelb! Das ist alles, was sie sicher sagen können und es ist das Wichtigste überhaupt.“
Ich dachte mir: Was für ein Arsch! Schreit das arme Mädchen an, obwohl sie doch recht hat. Doch ich lernte hier eine der wichtigsten Lektionen in der Kinderheilkunde überhaupt:
Schau das Kind an!
In der Erwachsenenmedizin verlernen wir oft, genau hinzusehen, weil die Patienten uns ihre Beschwerden mitteilen. Ein Kind ist dazu womöglich nicht in der Lage. Das Aussehen des Kindes verrät uns meist mehr als irgendwelche Laborwerte. Kinderkrankenschwestern sind – mehr noch als alle anderen – Spezialisten in Blickeinschätzungen. Meiner Lieblings-Schwester aus der Notaufnahme habe ich zu 100% vertraut, wenn sie sagte: „Bauchweh, aber lass dir Zeit“ oder „Der gefällt mir nicht. Renn!“ Weil sie sich die Kinder GENAU angesehen hat. Weil sie 30 Jahre Erfahrung hatte im Ansehen (und allem anderen). Viel mehr, als ich in meinem Medizinstudium je gelernt hätte.
Ich habe diese Lektion nie verlernt und sie – im Gegenteil – auch angefangen auf mein Leben außerhalb der Klinik anzuwenden. Ich schaue Menschen an. Nicht nur oberflächlich. Mir fallen immer Dinge auf. Medizinisches, wie ein auffälliges Gangbild, die pfeifende Atmung des asthmatischen Nachbarn, ein auffälliger Geruch eines Spielkameraden … Auch Nicht-Medizinisches. Die Frau, die immer so breit lacht, wenn sie grüßt, aber im Auto immer sehr ernst aussieht. Die Schatten unter den Augen der Erzieherin. Ich sehe, wie sich ein Bekannter nach dem Händeschütteln die Handflächen an den Hosenbeinen abwischt und drei Schritte rückwärts geht.
Dabei stelle ich fest, dass eben jeder sein Päckchen zu tragen hat. Aber ich frage mich auch, wann wir verlernt haben, uns gegenseitig anzusehen. Als mein Sohn noch im Kindergarten war, haben die Erzieher gesagt, er wüsste immer genau, was die anderen Kinder brauchen. Wir stecken in einer Gesellschaft fest, die sich mehr im Internet als im Real life abspielt. Auf Instagram, wo Filter die Wahrheit abdecken, in Foren, wo Anonymität einem den Mut verleiht, andere zu beleidigen. Irgendwann wird mein Sohn seine Freunde nicht mehr ansehen und wissen, was sie brauchen, er wird mit ihnen – jeder vor seinem Bildschirm – zocken. Oder Whatsapp-Nachrichten verschicken in der das Emoji die Gefühlsintention vermittelt – nicht der Gesichtsausdruck.
Das macht mich so traurig.
Wie viel mehr könnten wir voneinander und übereinander lernen, wenn wir mal ein bisschen genauer hinschauen würden?
Ich weiß, dieser Beitrag ist anders, als die vorherigen, aber es lag mir am Herzen, mal darüber zu sprechen und es würde mich sehr interessieren, wie ihr das seht. Schaut ihr euch eure Mitmenschen an? Und wenn nicht, wollt ihr es heute mal versuchen?
Ich versuche das tatsächlich, aber es gibt Tage an denen ich selbst nicht stark genug bin. Danach plagt mich meist ein schlechtes Gewissen, weil ich in dem Moment nicht für den anderen da war.
Danke dir für deinen mutigen Blogeintrag, denn leider schauen wir mittlerweile alle viel zu oft weg statt hin 😘
Das verstehe ich gut. Mach dir deshalb keinen Druck, es geht ja darum, es MAL zu tun und immer wieder. So, wie es einem selbst guttut. Manche Menschen sind auch einfach zu schüchtern, andere anzustarren, aber sie sehen und fühlen trotzdem ganz viel. Das glaub ich bei dir schon. Du bist ja so sensibel. ❤️
Bei mir im Beruf ging auch immer sehr viel über das anschauen. Und auch privat versuche ich mein gegenüber zu „sehen“ wie vicky schon schrieb,gelingt das nicht immer, gerade wenn es mir selbst sehr schlecht geht und mich nicht gesehen fühle.
Ein wirklich toller Beitrag, leider geht so vielen der Blick für seine Mitmenschen verlohren, auch in der Medizin..
Bei mir geht das auch nicht immer. An manchen Tagen laufe ich mit Sturmmiene durch die Gegend und keiner wagt es, mich anzusprechen …
Ich kann das gut nachvollziehen, ich wusste auch immer genau bei den unzähligen Möglichkeiten des Studienganges, dass ich Familienrichterin werden wollte. Und ja, ich denke schon, dass ich (meist) genau hinschaue – und mit der Zweidimensionalität der sozialen Medien Schwierigkeiten habe. Ich mag es von der Idee her, dass man den anderen so behandelt, wie man es für sich selbst wünscht.
Ja, genau das denke ich bei dir auch. Und ich finde es schön, wenn man sich selbst reflektiert und andere so behandelt, wie man selbst behandelt werden möchte. ❤️