Klette, Erdbeertorte, Drachenklaue, Wolkenbruch, Schokoküsse
In meinem Zimmer war alles wie immer: Das Bett war zerwühlt, als sei ich gerade erst daraus aufgestanden, ein Buch (Harry Potter und der Gefangene von Askaban) lag aufgeschlagen auf dem Nachttisch und die Fasern meines Teppichs legten sich wie immer nicht ordentlich in eine Richtung. Dieses Zimmer war so sehr ich, dass ich mich gleich viel lebendiger und besser fühlte. Würde da nicht ein gewisser Engel an meiner Seite kleben wie eine verdammte KLETTE, hätte ich die vergangenen Stunden als wirren Traum abhaken können. Aber leider, leider, leider war Cimaron auch durch Fingerschnippen und mich in den Arm zwicken (Autsch) nicht wegzuzaubern.
»Ich weiß, was du da tust, aber es wird nicht funktionieren.« Cimaron lächelte verständnisvoll. Ich verkniff mir die Aussage, dass es mir lieber wäre, er würde im Nirvana verständnisvoll lächeln und beschloss, dass ich ihn einfach später irgendwo abhängen würde. So ganz wusste ich noch nicht, wie ich das anstellen sollte. Denn er wusste ja nun, wo ich wohnte und … Gott, er war in meinem Zimmer! Er hatte mein Bett gesehen! Genau genommen saß er mit seinem blöden lederbehosten Knackarsch gerade mitten drauf. Dieser verstörende Gedanke machte mich kurzfristig hilflos.
»Ich sollte dir vielleicht noch zwei, drei Kleinigkeiten erklären, Elfi. Nur, weil wir hier wieder in deiner Welt sind, bist du nicht wieder lebendig. Es ist schon eine Weile her, seit ich in der irdischen Welt gewandelt bin, aber wenn ich mich richtig erinnere, sind wir unsichtbar.«
»Ach so?« Ich zerrte ihn neben mich vor den hohen Wandspiegel, meinem ganzen Stolz, den ich eigenhändig vom letzten Flohmarkt hergeschleppt hatte. Ich liebte den verschnörkelten Rahmen. Jetzt war ich allerdings nicht in der Lage, den Goldrand anzusehen, weil mein Blick auf unserem – kein bisschen unsichtbaren – Spiegelbild lag. Er groß und dunkel mit diesen etwas zu langen Haaren (die ihm leider verteufelt gut standen. Ich würde ihm trotzdem nahelegen, sich von unserem halbblinden Frisör einen modischen Kurzhaarschnitt verpassen zu lassen. Mit Giuseppes berühmtem Topfschnitt würde er so dämlich aussehen, dass ich ihn nicht mehr anstarren musste) und ich klein und blond. Mehr Kontrast ging gar nicht. Vielleicht starrte er deshalb genauso gebannt auf unser gemeinsames Konterfei. Wir passten halt überhaupt nicht zusammen. Als ob er unserer offensichtlichen Verschiedenheit wiedersprechen wollte, legte er seinen Arm um meine Schultern (ich fragte mich, wie oft er seinen riesen Arm um mich herumwickeln konnte) und zwinkerte mir zu. »Und jetzt? ERDBEERTORTE?«
Ich konnte beobachten, wie meinem Spiegelbild der Kiefer aufklappte.
Nicht vorteilhaft, Elfi. Klappe zu!
»Wie bitte?«, schnappte ich. »Was Besseres fällt dir nicht ein?«
Er schien kurz nachzudenken, dann schüttelte er den Kopf. »Ich liebe Kuchen.«
»Und ich will meinen Mörder finden.«
»Den finden wir besser mit Kuchen im Bauch. Der ist sogar vegetarisch.«
»Moment … Du behauptest, wir seien tot und unsichtbar und dennoch können wir Torte essen?« Ich griff mir in die Haare, was meiner zerzausten Frisur nicht unbedingt guttat.
»Du bist tot. Ich bin unsterblich.«
»Das bedeutet …«
»Keinen Kuchen für dich.« Er lächelte süßlich und ich hatte gute Lust, meine Fingernägel in sein Gesicht zu schlagen. Aber da sie leider millimeterkurz abgenagt und auch nach meinem angeblichen Tod nicht auf wundersame Weise zu DRACHENKLAUEN gewachsen waren, ballte ich einfach nur die Fäuste.
Er lachte auf und zog mich – ungeachtet meiner halbherzigen Abwehr- (bzw. Tötungs-) versuche – näher an sich. »War nur ein Scherz. Ich lass dich auch mal abbeißen.« Er spitzte die Lippen. »Vielleicht … wenn du brav bist.«
»Ich bin nie brav«, motzte ich und presste beide Hände gegen seine Brust. Hach … Mist! Er fühlte sich einfach zu gut an. Hastig riss ich meine Hände zurück, als ob ich mich an ihm verbrannt hätte, was streng genommen nicht ganz falsch war. Cimaron wusste genau, wie unglaublich sexy er war. Damit spielte er, um mich auf diese dämliche zweite Ebene zu verschleppen. Wenn ich etwas mit absoluter Sicherheit verhindern wollte, dann das! Ich würde schön hierbleiben, in meinem kuschelig-chaotischen Zimmer, bis Cimaron langweilig werden und er mich endlich in Frieden weiterleben lassen würde.
»Ach tatsächlich? Nicht möglich«, murmelte er ironisch und stapfte auf meine Zimmertür zu.
Bevor er sie aufreißen und (nicht auszudenken!) meiner Mutter in seiner ganzen Lederhosenpracht in die Arme spazieren konnte, warf ich mich dagegen. »Wohin willst du denn? Wir könnten doch …« Peinlicherweise zuckte mein Blick zu meinem zerwühlten Bett hinüber. Das Grinsen, welches daraufhin über sein Gesicht kroch, war nichts als beschämend. Nun wollte ich sterben.
»Ja?«
Oh verdammt! Warum hatte ich nicht nachgedacht, ehe ich mich zwischen ihn und diese Tür gequetscht hatte? Nun passte keine Briefmarke mehr zwischen mich und seine aufgeblasenen Muskeln. Engel waren wirklich nur eine schreckliche Anhäufung an Klischees. Ich hasste es!
»… erst noch herausfinden, ob ich vielleicht einen Abschiedsbrief hinterlassen habe? Oder vielleicht finden wir einen Hinweis auf meinen Mörder?«, schloss ich mit ebenso zittriger Stimme, wie sich auch meine Knie anfühlten. Ich war ein eingeklemmter Wackelpudding.
Das Grinsen verrutschte etwas. »Schade, dein erster Gedanke hat mir besser gefallen. Aber was auch immer du geplant hast, zuerst wird gegessen. Wenn ich schon mal auf der Erde bin, werde ich schlemmen, bis ich für die nächsten Jahrhunderte genug davon habe. Zwar müssen wir Engel nicht essen, aber es ist doch ein vergnügliches Erlebnis. Fast so gut wie –« Jetzt sah er wieder zu meinem Bett und ich verwandelte mich in eine Dampfnudel. Wenn tot zu sein bedeutete, dass man sich blitzschnell von einem Dessert ins nächste verwandeln konnte, verstand ich, warum Cimaron – der Verfressene – mich so hungrig musterte. Er räusperte sich erstaunlich ausdauernd und öffnete so unerwartet die Tür in meinem Rücken, dass ich einfach nach hinten geplumpst wäre, wenn sein blöder Bizeps-Arm mich nicht an ihn gepresst hätte, als sollte ich da festwachsen (welch albtraumhafte Vorstellung!).
Wir hatten unheimliches Glück, weil meine Familie ausgeflogen schien und so nichts davon mitbekam, dass er den vegetarischen (okay, leeren) Inhalt unseres Kühlschranks beschimpfte und dann ohne die geringste Vorsicht aus dem Haus polterte.
Es war einer dieser Wintertage, die zu warm für Schnee, aber zu bedeckt für Sonnenschein waren. Ein Wetter wie meine Stimmung, während ich hinter Cimaron – dem Futterspürhund – hertappte. Er schien etwas gewittert zu haben (Marmeladenpfannkuchen, seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen), aber dann schoss sein Blick nach oben und er seufzte. Im nächsten Augenblick brach der WOLKENBRUCH from hell über uns herein und ich lernte etwas neues dazu: tot (und möglicherweise unsichtbar) zu sein bedeutete nicht, dass man nicht nass werden konnte. Wir wurden nicht nass. Wir ersoffen quasi. Doch während Cimaron der Regen von den dunklen Haarspitzen perlte (was mir uuuuunheimlich kitschige Gedanken durch den Kopf jagte. Ich sage nur so viel: Tropfen, die über seine Haut leckten … Leckten! Wie Zungen! Und meine Zunge schien urplötzlich ein Regentropfen sein zu wollen … Oh. Mein. Gohohooootttt!!!) glich ich unter Garantie einer getauchten Katze.
»Ich hab noch nie verstanden, was daran romantisch sein soll«, brummte ich mehr um mich selbst davon zu überzeugen, als für Cimarons Ohren gedacht, doch natürlich hörte er alles. Engel mussten irgendwie nah mit Schäferhunden verwandt sein.
»Nicht?« Er beugte sich zu mir herunter und strich eine triefende Haarsträhne aus meiner Stirn. »Ich finde es vor allem höchst anregend, mir vorzustellen, wie ich dir diese nassen Fetzen vom Leib schäle und dich dann schön langsam wieder aufwärme.« Ich setzte bereits zu einer bissigen Erwiderung an, als er noch ein Stück näher kam, »Mit meinen Lippen«, raunte und mich dann unverschämterweise küsste. Einfach so!
Tritt ihn in die Eier, Dritter in der Reihe, ritt er den Reiher, Ritter und Freier, Glitzernde Eier … verdammt war das heiß! Seine Zunge! Was machte seine Zunge … da … Mund … shit …
»SCHOKOKÜSSE!«, schrie ich atemlos, als ich mich endlich von ihm losgerissen hatte.